Kleine Literaturen und Nachbarschaft

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Kleine Literaturen in (Ost)mitteleuropa zeichnen sich im 19. und 20. Jahrhundert durch spezielle gesellschaftliche, zeitliche und ästhetische Interaktionsmechanismen aus und bilden deshalb den Gegenstand der Untersuchungen für den Jahresschwerpunkt „Kleine Literaturen und Nachbarschaft“ im Rahmen des Projekts EUTIM.

Kleine Literaturen wie die tschechische, jiddische, sorbische, ukrainische, slowenische oder georgische entfalten sich seit Ende des 19. Jahrhunderts insbesondere in den multiethnischen Kontinentalimperien, in denen die Entwicklung dieser Literaturen – selbst wenn sie wie die georgische eine lange Tradition haben – anderen Bedingungen als Nationalliteraturen unterworfen ist. Die Verbreitung von Texten wird einerseits häufig von der Imperialmacht eingeschränkt, andererseits existieren informelle multilinguale Kommunikationsräume, in denen Literatur in verschiedenen Sprachen geschrieben wird, zirkuliert und sich in diesem Prozess verändert. Die gesellschaftlichen Bedingungen für die Entstehung dieser Literaturen beeinflussen ihre Funktionen und auch ihre Bedeutung für bestimmte Sprachgemeinschaften.

So kommt den Texten der kleinen Literaturen nicht nur eine ästhetische Funktion zu, sondern sie sind Instrumente der Nationsbildung, indem sie Narrative der Vergegenwärtigung und Entfaltung ethnischer Gemeinschaften oder nationaler Kultur hervorbringen und verbreiten sowie mit ihren Erzählungen Teil des Prozesses der Politisierung und Institutionalisierung von entstehenden Gemeinschaften sind.

Zudem gibt es auch oft Konkurrenzen zwischen Großen und Kleinen Literaturen und zwischen kleinen Literaturen. Der Begriff „Kleine Literaturen“ verweist auf eine Außenperspektive, die auf diesen sich von Literaturen in homogenen Sprachräumen unterscheidenden Entstehungs- und Entwicklungsprozess rekurriert und den Kafka zum ersten Mal in Prag 1911 skizziert hat.

Mit diesem Jahresschwerpunkt wollen wir – ausgehend von der oben skizzierten Verfasstheit der kleinen Literaturen – untersuchen, welche Rolle die kleinen Literaturen für gesellschaftliche Prozesse und Debatten innerhalb ihres Kommunikationsraums gespielt haben und spielen, wie sich die Modernisierungsparadigma Großer Literaturen in den kleinen Literaturen widergespiegelt haben und welche Widerstände es dagegen gab. Außerdem wollen wir die Verflechtungsdynamiken zwischen großen und kleinen Literaturen, maßgebliche Akteurinnen und Akteure sowie deren Rollen in diesem Prozess in den Blick nehmen.

Am Ende soll ein aktueller Ausblick auf die Bedeutung dieser Frage für die Gegenwart erfolgen, der den Unterschied zwischen der sorbischen Literatur als „Kleiner Literatur“ (im Sinne Kafkas) einer in Deutschland anerkannten „Minderheit“ und der deutschsprachigen Literatur als „littérature mineure“ (‚Minderheitenliteratur‘) im Sinne von Deleuze/Guattari für unsere Gegenwart im 21. Jahrhundert schärfen soll.