Von der sowjetischen Utopie zur putinschen Telekratie: Ästhetik, Politik und Wissen im Zeichen des Fernsehens in Russland und Osteuropa von den 1960er bis zu den 2020er Jahren
Wissenschaftlicher Mitarbeiter
Fabian Erlenmaier

Rahmen und Ausgangspunkt des Dissertationsprojekts ist ein medientheoretischer Befund, nämlich dass die auf dem Medium Buch basierende sowjetische Zukunftserzählung in dem Moment zusammenbricht, wenn das Fernsehen mit seinen „elektrifizierten Bildern“ seit den 1960er Jahren in den sozialistischen Republiken Osteuropas zum Massenmedium avanciert (Murašov). Jenes der sowjetischen Utopie zugrunde liegende mythologische Kommunikationsmodell kollabiert mit dem Fernsehen, das keine imaginären Prozesse in Gang setzt, sondern Bild und Ton synästhetisch zusammenschaltet, Bedeutungen an den Sprachkörper zurückbindet und Realität simuliert (Adorno, Baudrillard, McLuhan).
Vor dem Hintergrund dieser medientheoretischen Problematik fragt das Projekt, wie Literatur, Theater und Film mit ihren Geschichten und Strukturen das Fernsehmedium beobachten. Entlang eines diachronen Horizonts von den 1960er Jahren bis zu den 2020er Jahren lässt sich anhand einschlägiger Materialien aus der (inoffiziellen) russischen Kultur zeigen,
- wie das Fernsehen die sowjetische Utopie dekonstruiert: Hier sind es die Dramen von Aleksandr Vampilovs Kladbišče slonov (Friedhof der Elefanten, 1965) und Vladimir Sorokins S novym godom (Gutes neues Jahr, 1987), die ein weitreichendes Missverständnis der offiziellen sowjetischen Kultur aufzeigen, nämlich, dass sich mit dem Fernsehen als eine „neue Kunstart“ der Sozialismus als eine „Seelenbewegung“ kommunizieren lasse.
- wie aus der Dekonstruktion des Sowjetischen ein archaisches Konsumbegehren und Zwangsmechanismen entstehen, die in die Institution des Fernsehens hineinwachsen und dort die putinschen Fernsehnetze und Geldkanäle hervorbringen: Dies lässt sich in Theaterstücken wie Rodion Beleckijs Svobodnoe televidenie (STV), (Das Freie Fernsehen (STV), 1999) oder Aleksandr Vartanovs Theaterstück Das große Fressen (Bol’šaja Žračka, 2002) einsehen, deren Autoren einst selbst bei den in den Stücken thematisierten Sendungen arbeiteten: Sam sebe režissër (SSR) (Ich bin mein eigener Regisseur, 1992-2019) und Okna (Fenster, 2002-2005).
- wie das Fernsehen als Institution und Machtmedium den politischen Körper im putinschen Russland deformiert und eine Art Rückkehr des „Leviathans“ stattfindet. Sie äußert sich in einer Desäkularisierung des Politischen, die mit exzessivem Konsum und Gewalt einhergeht. Im Mittelpunkt der Analyse stehen hier Varvara Faers am Moskauer teatr.doc aufgeführtes Theaterstück BerlusPutin (2013) sowie Vladimir Sorokins Theaterroman Belyj kvadrat (Das weiße Quadrat, 2017).