Europas umkämpfte Peripherien: Ein Blick in die soziohistorische Abwärtsspirale im Donbass und die gelebte Dystopie eines langwierigen Krieges um Territorium und Erinnerung

Wissenschaftliche Mitarbeiterin
Elen Budinova

zur Person
Bild via r2p.org.ua

Historisch eingebettet ins osteuropäische Tiefland inmitten multivektorieller Kulturtransfers, aber auch zahlreicher Bruchlinien nomadischer ‘Invasionen’ und konkurrierender hegemonialer Interessen, umfasst der „Donbas” eine beiderseits der russisch-ukrainischen Grenze liegende historische Region, die heute größtenteils zur Ukraine gehört. Beginnend mit Initiativen von Siedlern internationaler Herkunft während des spät-russländischen Zarenreiches, hat sich die Region zu einem ausgeprägt urbanisierten Bergbau- und Schwerindustriezentrum entwickelt. Vor sieben Jahren begann ein dunkles Kapitel der Geschichte des Donbas, der nun zum Schauplatz eines langwierigen undurchsichtigen Krieges wurde, welcher eine massive Bevölkerungsabwanderung zur Folge hatte. Infolge des schwelenden kriegerischen Konflikts sind zwei separatistische, offen von Russland protegierte Regimes errichtet worden, welche die Destabilisierung tagtäglich zementieren, da sie ökonomische Verflechtungen und lokale soziale Gefüge zerreißen.

Das vorliegende Projekt möchte eine soziohistorische Kontextualisierung des postsowjetischen Donbas vornehmen, indem es regionale Identitäten, sozioökonomische Wirklichkeiten und politische Herausforderungen in der Grenzregion analysiert. Dabei sollen Stereotypen entlang angeblicher ethnischer Trennungslinien und instrumentalisierter „historischer Rechte“ hinterfragt und überwunden werden. Thematisiert werden dabei auch die industriellen Strukturen der Region, die nach der Auflösung der Sowjetunion einem tiefgreifenden Strukturwandel unterworfen waren. Dabei fällt der Fokus auf die klientelistischen Strukturen in Wirtschaft, Politik und Gesellschaft, die häufig von einem Abhängigkeitsverhältnis zu Moskau geprägt waren und sind. Untersucht wird darüber hinaus die Rolle von EU und NATO als alternatives Integrationsmodell und die lokale Resonanz auf ukrainische Identitätsdiskurse zivilgesellschaftlicher Akteure.

Die Untersuchung ist interdisziplinär angelegt und richtet das Hauptaugenmerk auf die Rolle lokaler Akteure und des Kreml für die Konstruktion dystopischer lokaler Lebenswirklichkeiten im schwelenden Konflikt zwischen Kiew und Moskau. Gewalt als überlegene Polarisierungskraft, multidirektionale Othering-Prozesse und der buchstäbliche Zusammenbruch von Raum und Zeit durch die Propaganda von Russland und den neuen lokalen Eliten bilden das Rückgrat der Analyse. Diskutiert werden die Instrumentalisierung historischer Mythen für machtpolitische Zwecke und die Umdeutung kollektiver Kategorien und Motive wie Trauma und Heldenerzählungen, die das russisch-imperiale und sowjetische Erbe der Region betonen und idealisieren. Die Folge dieser Bemühungen, so lautet eine Hypothese meiner Arbeit, ist die langfristige Stabilisierung eines „kein Krieg – kein Frieden“-Schwebezustands an der östlichen Peripherie Europas.