Workshop Do 16 Feb 2023 – Fr 17 Feb 2023

„Kleine Literaturen und Nachbarschaft“

Workshop organisiert von Annette Werberger, Anja Jahn und Claudia Dathe

->Programm hier

Europa-Universität Viadrina, AM 205, Logenstraße 4, 15320 Frankfurt/Oder

Kleine Literaturen wie die tschechische, jiddische, sorbische, ukrainische, slowenische oder georgische entfalten sich seit Ende des 19. Jahrhunderts insbesondere in den multiethnischen Kontinentalimperien, in denen die Entwicklung dieser Literaturen – selbst wenn sie wie die georgische eine lange Tradition haben – anderen Bedingungen als Nationalliteraturen unterworfen ist. Die Verbreitung von Texten wird einerseits häufig von der Imperialmacht eingeschränkt, andererseits existieren informelle multilinguale Kommunikationsräume, in denen Literatur in verschiedenen Sprachen geschrieben wird, zirkuliert und sich in diesem Prozess verändert. Die gesellschaftlichen Bedingungen für die Entstehung dieser Literaturen beeinflussen ihre Funktionen und auch ihre Bedeutung für bestimmte Sprachgemeinschaften. So kommt den Texten der kleinen Literaturen nicht nur eine ästhetische Funktion zu, sondern sie sind Instrumente der Nationsbildung, indem sie Narrative der Vergegenwärtigung und Entfaltung ethnischer Gemeinschaften oder nationaler Kultur hervorbringen und verbreiten sowie mit ihren Erzählungen Teil des Prozesses der Politisierung und Institutionalisierung von entstehenden Gemeinschaften sind. Zudem gibt es auch oft Konkurrenzen zwischen Großen und Kleinen Literaturen und zwischen kleinen Literaturen.

Der Begriff „Kleine Literaturen“ verweist auf eine Außenperspektive, die auf diesen sich von Literaturen in homogenen Sprachräumen unterscheidenden Entstehungs- und Entwicklungsprozess rekurriert und den Kafka zum ersten Mal in Prag 1911 skizziert hat.

In unserem Workshop wollen wir – ausgehend von der oben skizzierten Verfasstheit der kleinen Literaturen – untersuchen, welche Rolle die kleinen Literaturen für gesellschaftliche Prozesse und Debatten innerhalb ihres Kommunikationsraums gespielt haben und spielen, wie sich die Modernisierungsparadigma Großer Literaturen in den kleinen Literaturen widergespiegelt haben und welche Widerstände es dagegen gab. Außerdem wollen wir die Verflechtungsdynamiken zwischen großen und kleinen Literaturen, maßgebliche Akteur*innen und ihre Rollen in diesem Prozess, darunter auch die Übersetzer*innen, in den Blick nehmen.

Teilnehmer:innen

Claudia Dathe (Europa Universität Viadrina, Frankfurt/ Oder)

Perspektiven eigenkultureller Vergegenwärtigung am Beispiel der ukrainischen Autorinnen Sofia Jablons’ka und Haska Šyjan

Die beiden ukrainischen Autorinnen Sofia Jablons’ka und Haska Šyjan setzen sich in ihren Texten auf verschiedene Weise mit kulturellen Zugehörigkeiten, Zuschreibungen und Konzepten von Gemeinschaft und Nation vor dem Hintergrund transkultureller Erfahrungen auseinander. Beide Autorinnen wurden vom mehrsprachigen Raum Galiziens und dem Leben in verschiedenen kulturellen und nationalen Räumen geprägt. Der Beitrag bietet eine kontextuelle Einordnung und den Vorschlag einer Kategorisierung von Perspektiven eigenkultureller Vergegenwärtigungen anhand der Travellogs „Der Charme von Marokko“ und „China, das Land von Reis und Opium“ von Sofia Jablons’ka und des Romans „Hinter dem Rücken“ von Has’ka Šyjan.

Efrat Gal-Ed (Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf)

Efrat Gal-Ed ist Professorin für Jiddistik an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, Autorin und Literaturübersetzerin. 2016 erschien ihre kritische Biographie Niemandssprache. Itzik Manger. Ein europäischer Dichter und 2019 Das Buch der jüdischen Jahresfeste in revidierter Ausgabe. Zu ihren Publikationen gehören zweisprachige Gedichtbände von Avraham Ben Yitzhak (mit Christoph Meckel, 1994) und Itzik Manger, (2004, erweiterte Edition 2016).

Kafkas ›kleine Literatur‹ und die jiddische Wortrepublik

Die jiddische Literatur der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts entstand in geographisch auseinander liegenden Kulturräumen, in ständigem Kontakt mit den umgebenden Mehrheitskulturen. 1927, mit der Aufnahme der staatenlosen jiddischen Literatur in den Internationalen PEN-Club, begannen jiddische Autoren ihren fragmentierten Kulturraum und ihre Literatur mit ihren Zentren in Warschau, Wilna, Kiew, Moskau und New York als ein Literaturland aufzufassen; es entstand ›das Land Jiddisch‹. Am Beispiel der jiddischen und der tschechischen Literatur prägte Franz Kafka 1911 die Denkfigur der ›kleinen Literaturen‹ und formulierte Züge deren Dynamik. Wie verhalten sich Praxis und Vision der Autoren dieser jiddischen Wortrepublik zu Kafkas Reflexionen über Vorteile und »Charakteristik kleiner Litteraturen«?

Anna Hodel (Universität Basel)

Anna Hodel Laszlo (1982) hat Slavistik, Geschichte, Ethnologie und literarisches Übersetzen in Basel, Tübingen, St. Petersburg und Zagreb studiert. Nach ihrer Promotion zu südslavischen Romantiken und  Stationen an der Humboldt Universität in Berlin und der HSE in Moskau, vertritt sie seit 2019 den Lehrstuhl für Slavische Literaturwissenschaft in Basel. Ihre gegenwärtigen Forschungsschwerpunkte betreffen die künstlerische Imagination der postsowjetischen 90er Jahre, feministische Lyrik, Europadiskurse in der osteuropäischen Literatur und die postjugoslawische und postsowjetische Postdramatik.

Nationale Wege, imperiale Straßen: Unterwegs in und zu den südslavischen Romantiken

In a general movement of emancipation from and levelling with the ‘foreign’, as well as of flourishing affection towards the ‘own’, the south Slavic literatures, and intertwined with them, the south Slavic narodi, went through a decisive and sustainable phase of their formation in the era of European Romanticism. However, far from being limited to a clear-cut one-way street of nation building, the texts generally attributed to the South Slavic Romanticisms emerge from and are perceived and effective in a complex interplay of regional, (proto)national, transcultural, (anti)imperial and global landscapes and networks of communication and imagination. Building on my monograph Romantik jenseits des Nationalen. Geopoetik der südslavischen Romantiken im imperialen Raum (Anna Hodel, Böhlau 2020) and shedding light on some of the key texts of the Serbian, Croatian, Slovenian and Bosnian 19th century literatures, I want to scrutinize the figure of the (literary) neighbor and discuss his cultural impact and poetic potential, that might derive especially from its plurality, variability, transgressivity and indeterminacy, typically attributed to what some call(ed) “Kleine Literaturen”.

Freundschaft und Nation: Die Rolle von persönlichen Beziehungen in der niedersorbischen Literatur zwischen den Kriegen

Im Vortrag werden die gegenseitigen Bedingtheiten und Ausdrucksformen von Freundschaften und nationalen Ideen an einem Beispiel der niedersorbischen Literatur untersucht. Ausgehend von Mina Witkojc‘ (1893 – 1975) Lyrik werden Textstrategien des Nationalen anhand von drei Personenkonstellationen betrachtet: der Freundschaft zu Marjana Domaškojc (1872-1946), Freundschaften und Bekanntschaften innerhalb der sorbischen Sphäre und drittens der internationalen Kontakte. Es werden hier die entstehenden Unterschiede in den Textästhetiken analysiert. Es wird gezeigt, dass in Witkojc Texten eine „Ästhetik des Öffentlichen“ entsteht, die parallel verläuft zu ihrer Veröffentlichungstätigkeit von Lyrik in der niedersorbischen Wochenzeitung Serbski Casnik, dessen Chefredakteurin sie ist. Krieg und politischen Umbrüchen unterbrechen diesen Prozess und persönliche Netzwerke, über die die Veröffentlichung von sorbischen Texten in tschechischer Übersetzung organisiert wird, können die Situation für die niedersorbische Literatur maßgeblich stabilisieren.

Kristina Krumm (Carl von Ossietzky Universität Oldenburg)

Kristina Kromm, Master of Arts Slavische Studien (Carl von Ossietzky Universität Oldenburg). Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Slavistik (Literaturwissenschaft) an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg. Aktuell Promotion zum Thema „Im Spannungsfeld zwischen Politik, Ideologie und Ökonomie: Tendenzen institutioneller Autonomisierung im belarusischen Literaturfeld (Ende der 1980er Jahre bis 2019)“ im Rahmen des von der DFG geförderten Projekts „Autonomie, Markt und Ideologie im belarussischen Literaturfeld des ersten Drittels des 20. Jh.s und der Jahrtausendwende“.

Unterstützung und/oder Reproduktion literarischer ‚Kleinheit‘? Zur Rolle des (literarischen) Auslands im Autonomisierungsprozess des zeitgenössischen belarusischen Literaturfeldes

After the collapse of the Soviet Union, the production, distribution, and consumption of Belarusian literature takes place under social conditions that continue to be highly ideologized; the literary process is (in-)directly influenced by cultural policy regulations and measures. Based on an examination of this situation, the paper explores those institutional strategies in the realm of Belarusian literature from a field-theoretical perspective (Bourdieu) that can be understood as efforts of literary autonomization. Special attention is paid to the interconnections with the German-speaking space. The thesis is discussed that the role of foreign (literary) institutions proves to be ambivalent for the autonomization process of Belarusian literature: On the one hand, a space for production, attention and recognition is offered, which expands the possibilities of literary activity (especially in view of the restrictive developments in the aftermath of the presidential elections in Belarus (2020)); on the other hand, dependence on the receiving (literary) space and its ‘selection criteria’ is intensified.

“French Gogol”: reception and strategy of “Ukrainianization” of Alphonse Daudet’s works in Ukraine of the 1910s-1920s

In Ukrainian literature, the Provençal Renaissance of the second half of the 19th century was perceived as a model for the Ukrainian cultural revival. The opposition Provence/France (respectively Ukraine/Russia) was read as: south/north, ancient culture/new culture, conquered/conqueror. It is no coincidence that Alphonse Daudet, whose works deal extensively with Provence, was of particular interest to Ukrainian writers of the early 20th century. But Daudet wrote in French, not Provençal language, and thus in Ukraine he was called „the French Gogol“ (Mykhailo Hrushevskyi). The most significant for the Ukrainian readers are the „provençal theme“ (the collection of short stories „Letters from the Windmill“), and a cycle of novels about Tartarin de Tarascon, and the story „The Last Lesson“ (the collection of short stories „Monday Tales“). He is also interested in texts about an unhappy childhood (novel „Jack“) in the context of „the theme of Christian charity“. Often Daudet is perceived as a realist writer (Ivan Franko), an author who paid much attention to rustic themes. It is also believed that Daudet is a brilliant storyteller of medieval tales and folktales. In the story „The Priest of Cucugnan“, the French writer reworked a version of the medieval story of the journey to paradise, which in Ukraine was represented by the burlesque poem „The Priest Negrebetskyi“ (18 century).  There are several translations into Ukrainian of „The Priest…“ by A. Daudet, one of them is a travesty (1919). Finally, in 1920-1930s, A. Daudet’s „literary image“ changed, and he became one of the great realist writers whose works criticized the „mores“ of his contemporary society.

Daria Varushkova (Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf)

Daria Vakhrushova forscht an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf und unterrichtet Jiddisch an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Sie studierte Übersetzung und Übersetzungstheorie an der Linguistischen Universität in Nizhny Novgorod, Russland, und absolvierte ihr MA-Studium in Jiddischer Kultur, Sprache und Literatur in Düsseldorf 2016. Ihre Promotion, dem jiddischen Literatur- und Kulturentwurf der frühen Sowjetunion gewidmet, erfolgte 2022. Ihr aktuelles Forschungsprojekt unter Leitung von Prof. Dr. Efrat Gal-Ed widmet sich dem Ausbau des Jiddischen zur Nationalsprache der sowjetischen Juden vor dem Zweiten Weltkrieg.

Aleksander Finkels Selbstübersetzung der sowjetischen Übersetzungswissenschaft ins Jiddische

Aleksandr Moiseevič Finkel gehörte zu den ersten sowjetischen Übersetzungswissenschaftlern. Seit den frühen 1920er Jahren publizierte er dreisprachig – Russisch, Ukrainisch und Jiddisch – zu sprachwissenschaftlichen und übersetzungstheoretischen Themen. Sein Buch Теорiя й практика перекладу [Theorie und Praxis des Übersetzens], das 1929 in Charkiw auf Ukrainisch erschien, war die erste in Buchform veröffentlichte Abhandlung über das Übersetzen in der Sowjetunion. Im selben Jahr ließ er einen Teil dieser Monographie in einer jiddischen Zeitschrift veröffentlichen. In diesem Artikel – einem der ersten theoretischen Texte zum Thema Übersetzung in der jiddischen Sprache schlechthin – stellte er seine Thesen zu poetischem Übersetzen auf der Basis jiddischer Texte vor. Was hat Finkel dazu bewegt? War das eine ›genaue‹ oder ›freie‹ Übersetzung seiner ukrainischen Monographie? Worauf fußte sein Verständnis von Übersetzung? Und auf welche jiddischen Werke konnte er sich stützen, um im jiddischen Sprachraum rezipiert zu werden? Nachdem er 1930 Ziel einer öffentlichen Schmähcampagne proletarischer Kritiker wurde, gab es kaum noch jiddische Publikationen von Finkel. Doch sein Artikel bildet einen Eckstein im jiddisch-sowjetischen Übersetzungsdiskurs, der sich in den 1930er Jahren entfaltete. Heute ist dieser Pionier der jiddischen Übersetzungstheorie hauptsächlich als russischer Linguist und als Übersetzer von Shakespeares Sonetten ins Russische bekannt.

Annette Werberger (Europa Universität Viadrina, Frankfurt/ Oder)

Keynote: Jenseits der Europhonie. Zur Theorie der Kleinen Literaturen

Viele theoretische Modelle in den europäischen und US-amerikanischen Literaturwissenschaften werden vor allem von Vertreterinnen und Vertretern der fünf großen Literaturen auf Englisch, Französisch, Spanisch, Deutsch und Russisch geschrieben. Diese Literaturen, die ich wegen ihrer Geschichte und Reichweite als europhon bezeichnen möchte, zielen oft auf eine Überwindung von nationalen Grenzen und befördern die Verwendung von Begriffen wie „Internationalität“, „Mehrsprachigkeit“, „Transnationalität“, „Interdisziplinarität“, „Transkulturalität“ oder „globale Literaturen“. Häufig sichert diese Theoriebildung aber einfach nur die Diskurshoheit der großen Literaturen ab, eine linguistische Erweiterung findet nicht statt, sondern schrumpft häufig sogar. Die Fehllektüre von Kafkas Begriffe der „Kleinen Litteratur“ als „littérature mineure“ zeigt dies sehr anschaulich. In Theorien der „kleinen“ Literaturen geht es weniger um Grenzüberschreitung (die zum Alltag gehört), sondern um Sichtbarkeit. Der kurze Vortrag soll in die Problematik der Genese von Theorie in und für kleine Literaturen einführen.