Internationalismus vs. Kosmopolitismus
Internationalismus und Kosmopolitismus – ein lateinisches und ein griechisches Wort für das Transzendieren einzelner Gemeinschaften oder sesshafter Individuen – sollen beim Schwerpunktthema von EUTIM im Jahr 2023 als Begriffe in ihrer historischen Genese und ihren unterschiedlichen kulturellen Ausprägungen den Ausgangspunkt für eine Untersuchung von ungleichzeitigen Globalisierungsprozesse in den europäischen Ländern vor und nach 1989 bilden.
Beide Begriffe haben ihre Ursprünge in aufklärerischen Ideen, werden aus ideengeschichtlicher Perspektive aber meist mit den unterschiedlichen politischen Vorstellungen von Kommunismus und sozialistischem Internationalismus vs. Liberalismus und kapitalistischer, deregulierter Marktwirtschaft in Verbindung gebracht.
Muss man aber aus diesem Grund die postsozialistischen Staaten mit I. Krastev als Länder mit verordneter internationalistischer Vergangenheit verstehen, die aus dieser Erfahrung heraus den aktuellen Globalisierungsschub samt verstärkten Migrationsbewegungen ablehnen? Oder sind Internationalismus und Kosmopolitismus doch nur zwei unterschiedliche Bezeichnungen für per se ähnliche Prozesse – vergleichbar mit Kosmonaut und Astronaut –, deren Assoziationsräume in den ideologischen Kämpfen des Kalten Krieges entstanden?
Ein erster Blick in die Ideengeschichte zeigt, dass internationalistische Konzepte meist mit Formen der Zugehörigkeit zu einer Gruppe oder Einheit (Nationalstaat, Nationalliteratur, Volk, Arbeiterklasse, Studentenschaft, Partei, Bruderschaft etc.) arbeiten. Man muss erst zu dieser Einheit gehören, bevor ein Imperativ zur Verbindung mit anderen Mitgliedern einer bestimmten Gruppe wirksam werden kann (man denke nur an das „Proletarier aller Länder, vereinigt Euch“ im kommunistischen Manifest). Kosmopolitismus wird hingegen mit Konzepten von Partikularität und Singularität verbunden, was bis zu antisemitischen Vorwürfen von Wurzellosigkeit und vernetzter Verschwörung reichen kann.
Der Kosmopolitismus ist im Gegensatz zum sozialen und politisch gerahmten gruppenorientierten Internationalismus somit stärker ökonomisch, kulturell und differenztheoretisch geprägt. Kosmopolitismus erlaubt zwar mehr asymmetrische Beziehungen, aber kosmopolitischer Weltbürger wird man meist nur durch Privilegien wie Zugang zu Bildung oder Reisemöglichkeiten. Durch die Globalisierung wurde deswegen der systemische Zusammenhang von globalem Arbeiten, Subjektivierung, (Selbst-)Optimierung über eine Kosmopolitismusdiskurs (Behabib, Nussbaum) erneut kritisch diskutiert.
Der Jahresschwerpunkt nimmt Reaktionen auf Globalisierungseffekte und Tempi der Globalisierung in Ost und West in den Blick. Zeitliche Schübe internationalistischer und kosmopolitischer Entwicklungen in Ost und West sollen hierbei genauer untersucht werden, insbesondere in der Zwischenkriegszeit und vergleichend hierzu „1968“ in Ost und West, in der sich kosmopolitische und internationalistische Argumente verschränken.